Was in Europa bisher noch an keiner Universität erreicht wurde, ist nun in Kerala/Indien Realität: Alle Psycholog*innen beenden ihr Studium mit Grundkenntnissen und –erfahrungen in der von Ruth C. Cohn „entdeckten“ TCI. Die „Gelebte Geschichte der Psychotherapie“, die leider nie ins Englische übersetzt wurde, obwohl englischsprachige Fragmente als Vorentwürfe in Ruth C. Cohns Nachlass zu finden sind, wird bei den Psycholog*innen in Indien lebendig.
Dr. P. Nazeer, Principal des Mannaniya College of Arts & Science, hat die Hereinnahme der TCI an seiner Fakultät kräftig vorangetrieben, sodass die Aufnahme in den „syllabus of B.Sc Psychology in Kerala University“ gelungen ist. Motiviert hat ihn die Zusammenarbeit mit dem „Senior-Graduierten“ Indiens, Prof. em. Dr. Thomas Abraham, der an der Mahatma Gandhi University gelehrt hatte und den universitären Kontext gut kennt. Die beiden Kollegen sind mit der Bitte an mich herangetreten, bei der Ausbildung der Psychologiedozent*innen in TCI mitzuhelfen. Geplant sind spezielle Kurse für diese Berufsgruppe. Da aber im Moment wegen der Corona Pandemie und den damit zusammenhängenden Reiseeinschränkungen keine „Live-Seminare“ möglich sind, haben wir uns zunächst für ein Webinar entschieden, das Thomas und ich geleitet haben. Zu meiner großen Überraschung kamen nicht nur Dozent*innen von der Psychologischen Fakultät des Initiators, sondern 28 Kolleg*innen aus unterschiedlichen Universitäten in Kerala. Meine intensive Vorbereitung über mehrere Wochen hatte sich gelohnt.
In „meinen“ Teilen versuchte ich vor allem am Zusammenhang von Ruth C. Cohns Lebens- und Therapiegeschichte und ihrer „Entdeckung“ der TCI zu arbeiten. Dabei wurde mir wiederum deutlich bewusst, was Angelika Rubner im Heft 2/2020 der TZI-Zeitschrift anspricht: Der große Verlust an psychoanalytischer und damit auch kulturtheoretischer Kompetenz in der TCI–Community. Für Ruth C. Cohn waren ihre (über)lange Lehranalyse und ihre intensiven Erfahrungen in humanistisch-therapeutischen Konzepten Voraussetzungen, um die TCI zu entwickeln und Kultur und Gesellschaft zu verstehen. Wenn ich mich nicht völlig verrechnet habe, würde ihre Aussage, dass sie von 1933 bis 1939 sechs Tage in der Woche je eine Therapiestunde lang auf der Couch gelegen ist, nach Abzug von Urlauben/Ferien noch immer bedeuten, dass das ca. 1600 Analysestunden waren. Aus dem heraus ist auch Ruth C. Cohns ständige Sorge zu verstehen, dass sich die TCI in Europa zu schnell ausbreite und die fundierte Ausbildung der TCI-Lehrenden darunter eklatant leide. Die Gründungsmitglieder von W.I.L.L. International waren ja zum Großteil noch Psychoanalytiker*innen; darunter so bekannte Namen wie Annelise Heigl-Evers, Franz Heigl, Ilse Seglow, Edmund Frühmann, Anita und Helmut Ockel oder Bojan von Plotho (bei der ich meinen Krisenkurs machte). Die Implementierung von TCI in die Psycholog*innenausbildung in Kerala erinnert daran, dass die erste Einladung Ruth C. Cohns als sie nach Europa zurückkam, den Psycholog*innen und vor allem den Psychoanalytiker*innen galt.
Auf heute bezogen – das konnte ich im Webinar auch ansprechen – könnte die TCI durch ihr starkes gesellschaftspolitisches Selbstverständnis, das Ruth C. Cohn entwickelt hatte und das sich u. a. in ihrer Selbstbezeichnung als „Gesellschaftstherapeutin“ ausdrückte, eine Brücke zwischen Psychologie und Soziologie schlagen. Gegenwärtige Soziologen wie Hartmut Rosa kommen – bis in die verwendete Terminologie hinein – dem Denken Ruth C. Cohns verblüffend nahe. H. Rosas Begriff der unverfügbaren Resonanz des Menschen auf die Welt ist nicht weit von R. C. Cohns Plädoyer „Es geht ums Anteilnehmen“ entfernt. H. Rosas Auseinandersetzungen mit Unverfügbarkeit und Teilverfügbarkeit berühren sich in Ruth C. Cohns Auffassung von der partiellen Mächtigkeit des Menschen, der auf Grund seiner Allverbundenheit – aufs große Ganze gesehen – auch mit kleinen Schritten etwas bewirken kann. Die Kooperation im indischen Webinar war für mich mit der Erfahrung verbunden, dass in einer angesichts von Pandemie und ökologischer Krise der Verfügungsmacht des Menschen weitgehend entzogenen Welt, kleine, hoffnungsvolle Schritte zum „guten Leben mit allen und allem“ (vgl. Scharer 2020) über Kulturgrenzen hinweg möglich sind.