Methoden für den Gruppenprozess

Originaltext von Ruth C. Cohn

DIE HILFSREGELN

»Hilfsregeln helfen, wenn sie helfen!« Sie helfen nur, wenn sie menschengerecht angewandt werden. Seelenlose, mechanische Kommunikation ist nicht menschengerecht. 

Meine ursprüngliche Begeisterung für Kommunikations-Hilfsregeln legte sich unter dem Eisregen mechanisierter Anwendungen des »Cohnschen Regelsystems«, das in vielen Institutionen an die Wand angeschlagen und in die Hirne eingebrannt wurde, ohne den Geist der Axiome und Postulate zu kennen oder zu erkennen, denen die Regeln helfen sollen.

Porträt von Ruth C. Cohn
Ruth C. Cohn

Ein Beispiel: »Vertritt dich selbst in deinen Aussagen; sprich per >Ich<und nicht per >Wir<oder per >Man<.«- Diese Hilfsregel hilft, Versteckspiele zu vermeiden und selbstverantwortliche Aussagen zu fördern. Sie wendet sich auch gegen die kulturelle Hypokrisie, daß man nicht von sich selbst sprechen soll. – Missbrauch der Hilfsregel: Eine Frau hatte mehrere Sitzungen lang in der Gruppe kein Wort gesagt. Dann begann sie einen Satz mit: »Man hat es schon schwer, in einer so großen Gruppe zu sprechen...« Der mißleitete Gruppenleiter unterbrach sie: »Sprich per ich und nicht per man.« Die Frau erschrak, wurde rot, schüttelte den Kopf und schwieg. Ihr schüchterner Versuch, in der Gruppe zu sprechen, war mit einer Maßregelung und nicht mit einer Hilfsregel beantwortet worden'!

 

Wenn Hilfsregeln im verstehenden Geist gebraucht werden, sind sie sehr hilfreich!

 

Beispiele von Hilfsregeln:

 

»Sei zurückhaltend mit Verallgemeinerungen.« Begründung: Verallgemeinerungen haben die Eigenart, den Gruppenprozess zu unterbrechen. Sie sind jedoch angemessen, wenn ein Unterthema ausreichend diskutiert worden und der Wechsel des Gegenstandes angezeigt ist (z. B. um dynamische Balance herzustellen und zu einem anderen Unterthema überzuleiten).

 

»Wenn du eine Frage stellst, sage, warum du fragst und was deine Frage für dich bedeutet. Sprich für dich selbst und vermeide das Interview.« Begründung: Echte Fragen verlangen Informationen, die nötig sind, um etwas zu verstehen und Prozesse weiterzuführen. Authentische Informationsfragen werden durch das unausgesprochene Anliegen des Fragenden persönlich und klar. »Sokratische Fragen«, also Denkanregungen, sind interessant, wenn sie als solche verstanden werden. Doch oft sind Fragen Vermeidungsspiele, eigene Erfahrungen herzugeben, oder dienen als Werkzeug inquisitorischer Machtkämpfe. Die befragten Personen, die solche Tendenzen mehr oder minder klar empfinden, nehmen sie nicht ernster, als sie gemeint sind. Unechte Antworten und Gegenfragen folgen unechten Fragen. Interview ersetzt Dialog. Dagegen inspirieren eigene Aussagen, Gedanken und Interaktionen den persönlichen und sachlichen Austausch. Echte Kommunikation ist ebenso ansteckend wie defensives Gerede.

 

»Sei authentisch und selektiv in deinen Kommunikationen. Mache dir bewusst, was du denkst, fühlst und glaubst, und überdenke vorher, was du sagst und tust.« Begründung: Wenn ich alles ungefiltert sage, beachte ich nicht meine und des anderen Vertrauensbereitschaft und Verständnisfähigkeit. Wenn ich lüge oder manipuliere, verhindere ich Annäherung und Kooperation. Wenn ich selektiv und authentisch bin (»selective authenticity«), begünstige ich Vertrauen und Verständnis. Wenn Vertrauen geschaffen ist, wird Filterung zwischen meiner Erfahrung und meiner Aussage zunehmend überflüssig. Je weniger solche Filter nötig geworden sind, desto einfacher, produktiver und froher ist die Kooperation von Partnern. Solches Vertrauen kommt nicht durch Konformitätsdruck oder in Übereilung zustande.

Kommunikationen verlangen Takt und Timing. Aufrichtigkeit ohne Selektivität kann schaden. Es kommt nicht nur auf den Aussprechenden, sondern auch auf den Empfangenden an. »Selektive Authentizität« war, historisch gesehen, meine passionierte Antwort auf den diktatorischen, undifferenzierten Anspruch vieler experientieller und Encountergruppen auf »totale Offenheit«.

 

»Halte dich mit Interpretationen von anderen so lange wie möglich zurück. Sprich statt dessen deine persönlichen Reaktionen aus.« Begründung: Interpretationen können korrekt und zeitlich angebracht sein. Wenn sie richtig und taktvoll sind (zeitadäquat), unterstützen sie das, was der Interpretierte ahnt oder weiß; wenn Interpretationen zwar richtig sind, aber nicht zeitgerecht, erregen sie Abwehr und verlangsamen den Prozess. Häufig dienen jedoch Interpretationen als Selbstbewunderungsspiel. Nicht-interpretative, direkte persönliche Reaktionen auf das Verhalten anderer führen zu spontaner Interaktion. (»Du redest, weil du immer im Mittelpunkt stehen willst«, kann richtig oder falsch sein und ist oft ein pseudo-analytischer Angriff. Dagegen: »Bitte rede jetzt nicht, ich möchte nachdenken« oder »Ich möchte selbst reden« ist wahrscheinlich echter und daher annehmbarer.)

 

»Beobachte Signale aus deiner Körpersphäre, und beachte diese auch bei anderen Teilnehmern.« Begründung: Die Körpersprache sagt viel über bewusste, aber auch unbewusste Gefühle aus. Die non-verbale Sprache ist oft ausdrucksvoller als das gesprochene Wort. So kann der eigene Körper uns darauf hinweisen, dass wir Gefühle beachten und Gedanken überdenken sollen. Die Körpersprache, gerade weil sie meist unbewusster ist als Worte, ist zwar eher authentisch, darf jedoch von andern nur als möglicher Wegweiser und nur mit viel Bescheidenheit und Takt interpretiert werden.

 

Es gibt in meinen verschiedenen Schriften eine Anzahl verschiedener Hilfsregeln. Manche von ihnen sind fast überall anwendbar, andere ergeben sich aus bestimmten Situationen und sollten immer wieder neu kreiert werden. Die Idee eines »Regelsystems« widerspricht der Vielfältigkeit von Lebens- und Gruppensituationen und dem Geist der TZI.

 

Ich führe Hilfsregeln nur dann explizit ein, wenn sie mir im Augenblick hilfreich zu sein scheinen, und nicht als programmierte" Gebote. Ohne Eingebundenheit der Hilfsregeln in eine humane Haltung und ohne Verständnis für die Axiome und Postulate dienen sie dem Antigeist, den sie bekämpfen wollen; der Antigeist heißt Intoleranz und Dogmatismus.

Gruppentechniken

TZI kann alle Gruppentechniken mit einbeziehen, die ihren Axiomen nicht widersprechen und die für die jeweilige Lebens- und Arbeitsgruppensituation hilfreich sind. Die Anwendung solcher Techniken muss dem Vorhaben der Gruppe und den Vorkenntnissen, Fähigkeiten und Interessen der jeweiligen Gruppenleiter(innen) entsprechen (z. B. für bestimmte Fachbereiche, Gewerkschaften, Bürgerinitiativen, Kommissionen, Jugend- und Kindergruppen). TZI-Praktiker können je nach ihrer eigenen Situation und Fähigkeit hilfreiche Techniken anwenden: Meditationsübungen, Rollenspiele, bestimmte Gestalttechniken, Gestaltungstherapie (Selbst- und Wir-Erfahrung mit Farben, Musik und Ton), verbale und nonverbale Kommunikations- und Wahmehmungsübungen (nach innen und außen), Bewegungs- und Entspannungsübungen, Stoffvermittlungstechniken (Didaktik, Medien) und andere Hilfen aller Art für die jeweiligen Wissens- und Aktionsbereiche. Unerlässlich sind für professionelle TZI-Gruppenleiter Flexibilität im schöpferischen Ansatz sowie Kenntnisse, wie Gruppenprozesse und Arbeitsklima durch Strukturen gefördert und wodurch sie behindert werden können. Dazu gehören präzise Techniken der Aufteilung und Zusammenführung von großen und kleinen Gruppen, Beziehungsklärung mit Ko-Leitern und Assistenten, Errechnen oder Ermessen der Relation zwischen verfügbarer Zeit und Personenanzahl; Homogenität und Heterogenität in der Gruppenzusammensetzung je nach Art oder Schwierigkeit des Themas oder der Aufgabe. Die meisten Misserfolge bei der TZI-Gruppenarbeit resultieren aus Unkenntnis des jeweiligen Globe und nicht genügend durchdachtem Strukturieren im Prozess. Wenn das menschliche und räumlich/zeitliche Umfeld, Vorbeziehungen und hierarchische Situationen nicht beachtet oder falsch beurteilt werden oder wenn die Aufteilung der Gruppe verwirrt, werden Aggression und Resignation gefördert und das Vertrauen geschädigt; der Prozeß wird so lange destruktiv bleiben, bis die Mängel behoben werden.

 

Einzelne Techniken, die aus psychotherapeutischen Methoden wie Gestalttherapie, Psychodrama, Bioenergetik, TA, Verhaltenstherapie usw. stammen, müssen in ihren Modifikationen erkannt und erlernt werden, wenn sie von Nicht-Therapeuten in nicht-therapeutischen Gruppen TZI-gemäß angewendet werden sollen. Dazu gehört die Fähigkeit, sich selbst und den Teilnehmern Grenzen aufzuerlegen und die TZI-Störungsregel (Störung gegen das Thema) einzuhalten.

 

Methode und Haltung gehören in der TZI so untrennbar zusammen wie Form und Gehalt bei einem Kunstwerk oder Leib und Seele beim Menschen. Ohne genügende Kenntnisse und ohne integrierte humanistische Haltung können TZI- Techniken in demagogischer und destruktiver Weise verwandt werden - ebenso wie Streichhölzer im Heuschober.

 

Auch ohne delegierte Funktion des Leitens gibt es Möglichkeiten, durch die eigene Einstellung und aufmerksame Betrachtung der Realität die Atmosphäre einer Kommissionssitzung oder einer Schulklasse zu beeinflussen und oft günstig zu verändern. Dies kann unter Umständen eine ungewöhnlich direkte Gefühlsaussage sein oder die Beachtung eines Teilnehmers, der etwas sagen möchte und nicht zum Sprechen kommt, ein mutiger Vorstoß gegen manipulatives »Überfahren« u. ä. . . . Auch die Beachtung der dynamischen Balance kann, ohne daß dies ausgesprochen werden müsste, hergestellt werden durch klärende Gedanken, Hinlenkung auf emotionale Gegebenheiten, die Beachtung von Zeit und Raum, selektiv-authentische Aussagen usw.

 

Alles, was ich sage, soll echt sein, nicht alles, was echt ist, soll ich sagen. Mit Takt und Timing läßt sich, bei stetigem Üben der eigenen Wahrnehmungsfähigkeit nach innen und außen, oft auch Einfluss in solchen Gruppen gewinnen, in denen man nicht selbst leitet.

Aus: Ruth C. Cohn / Alfred Farau: Gelebte Geschichte der Psychotherapie. Klett-Cotta, 1984