DAS PRINZIP DER DYNAMISCHEN BALANCE

Originaltext von Ruth C. Cohn

Jede Gruppe ist durch vier Faktoren bestimmt:

  1. die Person (Ich),
  2. die Gruppeninteraktion (Wir),
  3. das Thema oder die Aufgabe (Es),
  4. das Umfeld im engsten und weitesten Sinn (Globe).

TZI beruht auf der Arbeitshypothese, daß jede Person (Ich), die Interaktion der Gruppe (Wir) und die Arbeit an einer Aufgabe (Es) als gleichgewichtig angesehen werden sollen und der gegenseitige Einfluss von Gruppe und Umfeld beachtet werden muss. Symbolisch kann diese Konstellation als gleichseitiges Dreieck in einer vielschichtig-transparenten Kugel ausgedrückt werden: Ich, Wir und Es sind gleich wichtig, ebenso wie unsere nahe und ferne Umgebung, der »Globe«.

Porträt von Ruth C. Cohn
Ruth C. Cohn

 

Die Anerkennung und Förderung der Gleichgewichtigkeit der Ich-Wir-Es-Faktoren im Globe ist die Basis der TZI-Gruppenarbeit und -leitung. Es geht darum, die Wichtigkeit jeder einzelnen Person, die Wichtigkeit der Interaktion, die Wichtigkeit des Themas (resp. der Aufgabe) und die Wichtigkeit der Wirkungszusammenhänge in und mit der Umwelt in dynamischer Balance zu halten. Das Bewusstsein dieser Arbeitshypothese wird in allen Gruppenmitgliedern gefördert; an ihrer praktischen Verwirklichung mitzuwirken, ist Aufgabe des TZI-Gruppenleiters.

 

Im Prozess der Gruppenarbeit steigt und fällt die Betonung der einzelnen Faktoren; jedoch die dynamische Balance als Prinzip und Kompass ist konstant und wird in kürzestmöglicher Zeit immer wieder hergestellt. Dies bedeutet: Es muss beachtet werden, ob zum Beispiel gekränkte Gefühle oder sich versteifende Körper, schlechte Luft oder quälender Lärm die einzelnen und die Interaktion stören und ob etwas dagegen getan werden kann; meistens ist dies möglich, wenn Beachtung erlaubt wird! Oder das Dachthema kann durch das Übergewicht eines Unterthemas verloren gehen, oder umgekehrt; dann muss das Gleichgewicht zum Es hin wiederhergestellt werden. Oder Diskussionen über äußere Vorgänge mögen übermäßig lange im Vordergrund stehen und ein interaktionelles Wir-Problem oder die Arbeit selbst verdecken usw.

DYNAMISCHE BALANCE

Dynamische Balance als Begriff geht über das Dreieck in der Kugel hinaus. Gleichgewichtsstörungen entstehen auch in jedem Einzelnen durch Missachtung des Wechsels von Arbeit und Ruhe, Geben und Nehmen, durch zuviel Zeit mit Kindern und zuwenig Zeit mit Erwachsenen, oder umgekehrt, durch zuviel Training und zuwenig Ausübung usw. 

Dynamische Balance ist ein allgemeiner Lebensbegriff, die Notwendigkeit, Gegenpole im Leben einzubeziehen, wie es auch der chinesischen Yin-Yang-Philosophie entspricht. Leben ist gekennzeichnet durch sich bewegende Neuorientierung und nicht durch Statik. Der Begriff der dynamischen Balance ist eine Aufmerksamkeitshilfe, lebendiges Lernen/Lehren und lebendiges Leben zu begünstigen. 

Das Ich

 

Ich kann mich als Person empfinden, erspüren und erkennen wie niemand sonst, nämlich subjektiv. Je mehr ich mich nach innen wende und je klarer ich mir meine eigene Perspektive von der Außenwelt schaffe, umso sinnvoller kann ich entscheiden, wie ich Mitwirkender an meinem Lebensprozess bin und/oder sein möchte. Nur ich und niemand sonst kann meine Wahrnehmungen, Vorstellungen, Gefühle und Gedanken für mich erleben und vertreten, niemand außer mir hat meine Erinnerungen und Sehnsüchte und entscheidet für mich. Ich kann mein Bewusstsein erweitern durch Nachdenken, Nachspüren, Suchen nach Wahrhaftigkeit, Bitten um Hilfe und Kooperation. Doch ich bleibe ich selbst, die/der sich ändert. Je mehr ich diese offene, suchende Haltung in mir bewahre, umso leichter wird es mir, offen und tolerant mit anderen zu sein: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst - er ist wie du« - eigenständig und interdependent.

Je mehr ich mein Bewusstsein für mich selbst erweitere, um so deutlicher wird mir die Vielfalt innerer Strömungen und Motivationen; um so einfacher wird es auch zu verstehen, dass jeder Mensch anders ist und sein muß in der Vielfältigkeit seiner Erlebnisse und Fähigkeiten; denn seine Anlage und die von ihm durchlebte Geschichte ist nie meine eigene. - Wir sind wie Inseln, verwurzelt im Grunde des Ozeans, uns treffend in der Weite des Himmels. Ich bin nur ich, weil ich auch Wir-Anteil bin: Wir-Anteil meiner Eltern, meiner Kinder, meiner Nächsten, meiner Fernsten, Wir-Anteil der Menschheit und Wir-Anteil des Universums.

 

 

Das Wir

 

Das Wir ist kein psycho-biologischer Organismus wie das Ich, sondern eine Gestalt, die durch die jeweiligen Ichs in deren Interaktion entsteht und, wie jede Gestalt, mehr ist als die Summe ihrer Teile. Im engeren Sinn ist das Wir eine Anzahl von Menschen im selben Raum und in derselben Zeit, die sich aufeinander und auf ein gemeinsames Thema beziehen, d. h. akut interaktionell sind. Im weiteren Sinn kann eine Gruppe durch ein gemeinsames Anliegen auch über Raum und Zeit bestehen.

Eine Gruppe wird nicht dadurch gestärkt, dass Personen ihre Individualität aufgeben, sondern dadurch, dass diese sich in der jeweiligen Gemeinschaft aktualisieren. Jeder Mensch verwirklicht sich in der Beziehung zu den andern und in der Zuwendung zur Aufgabe. Das Wir wird stärker nicht durch Mitglieder, die sich selbst aufgeben, sondern durch die, die sich eingeben. Nicht: Ich gebe mich auf für meine Gruppe (Familie, Freunde, Volk, Menschheit), sondern: Ich gebe mich ein. Jedes Ich hat zentrale Verantwortlichkeit für sich selbst und partielle Verantwortung für die Gruppe. Wenn ich meine eigenen, gruppenunabhängigen Bedürfnisse vernachlässige, verliere ich einen Teil meiner Energie in Selbstaufopferung, und wenn ich die anderen Gruppenteilnehmer oder unsere Aufgabe nicht ernst nehme, verliere ich etwas von meinem Wir-Anteil, der zu meiner Selbsterfüllung gehört. Doch ich bleibe Wir-Anteil selbst dann, wenn ich mein Potential in mir selbst und für die anderen nicht erfülle. Denn ich bin wirksam bereits durch meine bloße Existenz als Atmende(r) und Anteil-Seiende(r).

 

Das Es

 

 

Das Es ist das Thema der Gruppe, der kleine Teil oder Aspekt der Welt von Dingen und Geschehnissen, um die sich eine Gruppe zentriert. Wenn das Thema, die Aufgabe, von allen Ichs als eigenes Anliegen und in Bezogenheit aufeinander gewollt und getragen wird, besteht eine optimale Arbeitssituation. Ob das betreffende Thema jedoch konstruktiv für die einzelnen und die Umwelt ist, muss durch Realitäts- und Wertbestimmung beurteilt werden. Ohne solchen Kompass können selbst Gruppensolidarität und Arbeitsfähigkeit lebensschädlich sein. - Beispiele: »Ein militärisches Team bespricht einen Raub- oder Vergeltungsangriff.« »Möbelfabrikanten erarbeiten günstige Bedingungen für den Einkauf von Holz aus tropischem Regenwald.« - Generative, lebensfördernde Themen sind dagegen solche, die sowohl allgemein-humanistische Werte als auch die Lebensbedürfnisse einer Gruppe einbeziehen und nicht auf die Leichen eines anderen Erdteils oder der Zukunft ihr Haus bauen.

Der Globe

 

Zum Globe gehören die Menschen und Geschehnisse außerhalb der Hier-und-Jetzt-Gruppe. Diese Außenwelt familiäre, berufliche, hierarchische, ökologische usw. - ist jedoch in ihrem Außensein auch immer in der Gruppe wirksam. Für das nähere Umfeld ist dies offenbar: für die abwesenden Partner, den Stundenplan, die Überlegungen der Einwirkungen von außen usw. Jedoch gehören zum wirksamen Globe auch die fernsten Menschen, gehören geschichtliche, planetarische und astronomische Gegebenheiten. Der Globe weitet sich zum Kosmos aus; denn alles hängt mit allem und allen zusammen, wann und wo es auch geschah, geschieht und geschehen wird. Zum Globe gehören auch Überlieferungen in Wort und Schrift, vergangene und heutige Institutionen, sichtbare und unsichtbare Gestirne, bekannte und unbekannte materielle und geistige Kräfte.

Die Ich-Wir-Es-Faktoren sind TZI-Studenten und -praktikern fast immer schneller bewusst als die Wichtigkeit des Globe. Die Abwehr sagt: »Man kann doch wirklich nicht alles berücksichtigen. Wir haben schon genug mit uns selbst zu tun. Was können wir schon anfangen mit diesem unheimlich großen Globe, der um das Gruppenzimmer herum liegt und in es hineinwirkt? Man muss sich bescheiden.« Die Zuwendung sagt: »Wir müssen uns mit den Einwirkungen des Globe auf uns und unsere Einwirkung auf ihn beschäftigen. Sonst sind wir wie ein Kapitän, der zwar sein Schiff kennt, sich jedoch um die Meeres-, Wind- und geographischen Situationsbedingungen nicht kümmert. Wer den Globe nicht kennt, den frißt er.«

Ich möchte dies unterstreichen: Das Bewusstsein der Globe-Faktoren ist für jede Gruppe so wesentlich wie das der Ich-, Wir- und Es-Faktoren.

ERKLÄRUNG

 

  • Wenn wir nicht antizipieren, wie Ort, Zeit, die Zusammenstellung der Gruppenmitglieder (soziale Schicht, Geschlecht, Alter, Bildung usw.) die Gruppeninteraktion beeinflussen, werden inadäquate Gruppenstrukturen den Vertrauenspegel senken, weil die Prozesse behindert werden.
  • Wenn wir die Hierarchien, von denen Kurs, Lehrplan, Betriebsveränderung, Gottesdienst, politische Aktion abhängen, nicht beachten, sei es akzeptierend, reformierend oder revolutionierend, wird die Gruppenarbeit wahrscheinlich zerschellen - finanziell, sachlich oder politisch.
  • Wenn wir die ökonomische, politische, soziale, gesellschaftliche Landkarte einer Schule oder eines Betriebes oder Landes nicht genügend kennen und die weitere Umgebung nicht mit in die Informationsvorgabe und unsere Entscheidungen einbeziehen, sind Aktionen von Gremien irrelevant oder schädlich. Wenn wir zum Beispiel einer Rezession nicht ins Auge sehen, suchen wir nicht nach alternativen Lösungen und bleiben statt dessen in irrelevanten Themen stecken, die uns daran hindern, kreative neue Möglichkeiten zu entdecken.
  • Wenn wir vergessen, dass die Beziehung Gruppe-Globe keine Einbahnstraße ist, sondern wechselseitige Auswirkungen hat, die wir zum Teil voraussehen können, dann entziehen wir der Gruppenarbeit einen großen Teil ihrer Möglichkeiten. Wenn wir z. B. verneinen, dass wir Einfluss haben können, schaffen wir sich selbst erfüllende Prophezeiungen (self fulfilling prophecies), während gezieltes Bewusstsein die kooperative Stärke von Möglichkeiten erhöht.

Aus: Ruth C. Cohn / Alfred Farau: Gelebte Geschichte der Psychotherapie. Klett-Cotta, 1984