Autonomie und Interdependenz in einer Stadt voller kultureller Handlungsspielräume und Grenzen
Was sich seit seiner Entstehung in New York auf interkultureller Ebene entwickelte, kann von Anfang an auch in den Vereinigten Arabischen Emiraten beobachtet werden. Zweifelsohne kann auch Dubai als Melting pot bezeichnet werden. Es ist quasi das Äquivalent zu New York, der Melting pot der arabischen Halbinsel.
85% der in Dubai lebenden Menschen kommen aus den unterschiedlichsten Ländern dieser Erde. Den Reiseführern zufolge sind es ca. 200 verschiedene Nationen, die hier zusammentreffen. Doch wie leben all diese Menschen mit ihren unterschiedlichen Erfahrungen, Werten und Normen im Miteinander und wie kann es gelingen, in diesem Kulturkonglomerat seine eigenen Handlungsspielräume auszuloten, sich selbst, seinen Werten und Normen treu zu bleiben und selbstbestimmt zu agieren?
Kultur, so die Psychologin Sylvia Schroll-Machl, bietet dem Menschen im materiellen und immateriellen geistigen Bereich Handlungsmöglichkeiten, setzt aber auch Handlungsgrenzen.[1] In Dubai, so schien es mir auf den ersten Blick, sind alte Traditionen und Kultur nicht allgegenwärtig, so wie sie beispielsweise in italienischen Städten sofort präsent und erlebbar ist. Mein erster Eindruck war vielmehr, dass die arabische Kultur zugunsten der vielen Einwandererkulturen weichen musste. Wenn dem so wäre, wie würde Kultur dann in Dubai überhaupt definiert bzw. gäbe es dann mehrere Kulturen parallel, welche unsere Handlungsmöglichkeiten und –grenzen bestimmen?
Die Emirati mussten sich binnen weniger Jahre von ihrem Beduinendasein verabschieden, sich mit den neuesten technischen Errungenschaften auseinandersetzen und einen enormen Wachstum ihres einstigen Fischerdörfchens binnen kürzester Zeit verkraften. Wenn man genauer hinsieht, konnten sie ihre Kultur trotzdem erhalten. Sie haben sie nicht nur in die moderne Welt mitgenommen, sondern sie leben sie auch. Das Beten nimmt einen großen Platz der Menschen ein und es ist auch im Leben von Nichtmuslimen durch die Gebetsrufer allgegenwärtig. Von meinem Balkon aus beobachte ich, wie fünfmal täglich zahlreiche Männer in die Moschee zum Beten gehen. Die vielen Museen dienen dem kollektiven Erinnern alter Traditionen und Kulturgüter. Alte Gebäude mit den typisch arabischen Windtürmen werden nachgebaut und am Souk wird gehandelt wie eh und je. Überall werden Tee und Datteln angeboten, beim Erkunden der Stadt steigt mir immer wieder der Duft von Weihrauch in die Nase und ich sehe auch im Alltag Männer und Frauen in traditionellen Gewändern. Die alten Abras dienen noch heute als Wassertaxis.
Kulturen, so auch in den Vereinigten Arabischen Emiraten, wandeln sich aufgrund externer oder interner Ereignisse und Entwicklungen. Stark beeinflusst wird Kulturwandel durch die Globalisierung, wodurch die unterschiedlichsten Kulturen zusammenkommen.[2] Diese Entwicklung zeigt sich in Dubai deutlich, wo die Regierung zugunsten des friedlichen Zusammenlebens und wohlwissend, auf die ausländischen Arbeitskräfte angewiesen zu sein, die Öffnung ihrer kulturellen Grenzen forcierte, was die Menschen in Dubai täglich auf unterschiedlichste Weise beeinflusst. Neben der arabisch-muslimischen Kultur dürfen auch andere Kulturen existieren. So gibt es beispielsweise die Evangelische Deutsche Gemeinde Dubai, die zahlreiche Gottesdienste und traditionelle Feste feiert. Der Alkoholkonsum ist erlaubt, jedoch nicht überall ist Alkohol erhältlich. Jeder darf sich kleiden wie er möchte, eine gewisse Grenze sollte dennoch nicht überschritten werden. Frauen dürfen mit der Erlaubnis ihrer Ehemänner arbeiten und Auto fahren und sich auch in Abwesenheit ihrer Männer frei in der Öffentlichkeit zeigen. Im Radio wird westliche Musik gespielt, Nachrichten politischer Art werden nicht gesendet, ebenso wenig Kritik am Regierungsstil öffentlich gemacht.
Durch die vielen Zugeständnisse und klaren Strukturen der emiratischen Regierung sind die verschiedenen Kulturen in Dubai in einer friedlichen und respektvollen Koexistenz arrangiert. Die erste Gesellschaftsgruppe bilden die Emirati selbst. Sie bleiben gerne unter sich und sind durch die Zugehörigkeit zu einem lokalen Stamm sozial abgesichert. Sie arbeiten entweder im Ministerium oder als Treuhänder ausländischer Firmen. Zur Hochzeit bekommen sie vom Scheich Haus und Auto geschenkt und die Schulbildung der Kinder wird vom Staat bezahlt.
Der gesamte Dienstleistungssektor wird von ausländischen Arbeitskräften besetzt. Die erste Gruppe dieser sogenannten Arbeitsmigranten sind Leute aus Indien, Pakistan, Bangladesch oder von den Philippinen. Sie leben in sogenannten Arbeitervierteln, welche sich entgegen aller Gerüchte nicht etliche Kilometer außerhalb der Stadt mitten in der Wüste befinden, aber dennoch verlassen diese Menschen kaum ihre Viertel und bleiben unter sich.
Die zweite Gruppe der Einwanderer sind die sogenannten Gastarbeiter aus westlichen Ländern wie Europa, Amerika und Australien. Zu dieser Gruppe gehöre auch ich. Diese Gruppe von Menschen trifft sich in Interessensgruppen, nationalen Gemeinschaften oder um zu netzwerken. Die Beziehungen untereinander sind meist oberflächlich und kurzweilig, denn der Großteil dieser Menschen verlässt Dubai nach fünf bis zehn Jahren wieder. Ich bin von ständiger Aufbruchsstimmung umgeben. Die Menschen sind nicht gekommen um zu bleiben, sondern um in kürzester Zeit viel Geld zu verdienen und um ihre berufliche Karriere voranzutreiben. Die vorherrschende Haltung der Menschen lässt sich als offen, oberflächlich interessiert und distanziert beschreiben. Ich komme schnell mit Leuten ins Gespräch und verbringe lustige Abende mit ihnen, aber ich merke nach kurzer Zeit, dass meine Gegenüber kein Interesse an meinen wahren Gefühlen, Interessen und Haltungen haben. Die meisten wollen Spaß haben und keine ersthaften Gespräche führen. Teilweise liegt dieser Haltung der amerikanische Background zugrunde und zum Teil ist es die Erfahrung der Leute, immer wieder Menschen näher zu kommen, die nach kurzer Zeit wieder aus dem eigenen Radius treten, die sie dazu bringt, weniger in zwischenmenschliche Beziehungen zu investieren.
Das Wissen um die kulturbedingten Handlungsspielräume und Grenzen und somit das Wissen um meine eigene Autonomie und Interdependenz helfen mir, mich in dieser kulturellen Vielfalt mit allen Spielräumen und Grenzen zurechtzufinden und wohlzufühlen. Ich weiß, dass ich aufgrund meiner eigenen Erfahrungen und kulturellen Einflüsse durch die arabische Kultur, aber auch durch die Einflüsse der vielen anderen Kulturen in Dubai Handlungsgrenzen erfahre. Viele Dinge laufen in Dubai anders als zu Hause in Österreich. Ich habe gelernt, diese Unterschiede nicht zu werten, sondern sie zu respektieren und mich stattdessen zu fragen, wo und inwieweit meine Grenzen erweiterbar sind und inwiefern die Grenzen für mich tragbar sind. So befrage ich häufig mein inneres Team, ob ich das Leben, das ich gerade lebe, auch wirklich leben möchte. Dabei höre ich bewusst auf die kritischen Stimmen in mir und hinterfrage genau, woher sie kommen und was ich in diesen Bereichen ändern kann. Je bewusster mir die kulturellen Unterschiede werden, desto mehr kann ich sie akzeptieren und desto mehr kann ich die Konfrontation mit Interkulturalität als spannendes Entwicklungsfeld wahrnehmen. Durch die ständige Auseinandersetzung mit mir selbst, habe ich gelernt, die zahlreichen Möglichkeiten zu sehen, welche mir das Leben in Dubai bietet, anstatt mir Dinge vorzustellen, die ich jetzt in Österreich haben könnte. Um in Dubai glücklich zu sein, musste ich lernen, das zu nützen, was mir hier geboten wird, allerdings nicht ohne darüber nachzudenken, welche der zahlreichen Angebote zu mir passen. Ich versuche achtsam mit mir und meiner Umwelt im Kontakt zu stehen und merke, wie ich auch in Dubai mehr und mehr das finde, was zu mir passt. Ich bin mir dessen bewusst, dass ich selbst für mich verantwortlich bin, und dass ich mich trotz oder gerade durch die kulturellen Spielräume, Grenzen und Gegensätze weiterentwickeln und ein selbstbestimmtes Leben nach meinen Vorstellungen führen kann, wenn ich auf mich höre und mir selbst treu bleibe. Im letzten Jahr habe ich zahlreiche Bekanntschaften gemacht und all jene Menschen, denen ich mich so gezeigt habe, wie ich bin und denen ich mit Achtung und Wertschätzung begegnet bin, sind mir nun liebe und ehrliche Freunde, mit denen ich mich gerne treffe, Spaß habe und auch ernsthafte Gespräche führen kann. Wir teilen gemeinsame Interesse, Freuden, aber auch den Kummer und die Sorgen, die wir als „Ausländer“ in einem fremden Land manchmal haben. Ich habe Freunde, Hobbys und Aktivitäten gefunden, welche zu mir passen. Durch die Integration des Chairpersonprinzips in meinen Alltag und das Jonglieren mit Autonomie und Interdependenz innerhalb der kulturellen Handlungsspielräume und Grenzen ist das Abenteuer Dubai für mich zur Entwicklungsreise geworden und ich bin dankbar, dass ich hier leben und die vielen Möglichkeiten in dieser multikulturellen und kontroversen Gesellschaft sehen und wahrnehmen darf.
[1] Sylvia Schroll-Machl, Die Deutschen – Wir Deutschen. Fremdwahrnehmung und Selbstsicht im Berufsleben. Göttingen 2002, S. 26.
[2] Vgl.: Karl-Ernst Lohmann, Interkulturalität und Diversity, in: Mina Schneider-Landolf/Jochen Spielmann/Walter Zitterbarth (Hrsg.), Handbuch Themenzentrierte Interaktion (TZI), Göttingen 2014, S. 263.